Wenn man ein Kind bekommt, stellen sich plötzlich Fragen, an die man vorher nicht im Traum dachte. Von allen Seiten prasseln Ratschläge auf einen ein, wie man am besten durch die Schwangerschaft kommt oder sich optimal auf die Geburt vorbereitet. Und wenn das Kleine dann erst das Licht der Welt erblickt, geht es richtig los. Was ist richtig, was ist falsch? Ernährung? Schlafen? Entwicklung? Betreuung? Schnuller? Schreikind? Kleidung? Spielzeug? Kindersitz? Verreisen? Krankheiten? Impfen? Vorsorge? Aaaaaaahhhhhhhhh! Dabei möchte und soll man eigentlich doch vor allem das Wunder bestaunen und sein Kind genießen.
Man kann nicht genug loben, dass es einen traditionsreichen Berufsstand gibt, der hilft, den Dschungel der Fragen in ein Feld von Lösungen zu verwandeln: Hebammen. Eine davon ist Anja Lausen, die in Borchen ihre Kursräume „Wiesenkinder“ hat und seit über zwei Jahrzehnten hilft, den Übergang von „ich“ zu „wir“ zu schaffen und zu genießen. Wir haben sie dort besucht, über den Hebammenberuf heute und über ihre ganz besonderen Kurse gesprochen.
Sind Sie Hebamme aus Leidenschaft? Wollten Sie das immer schon werden?
Ich habe ein paar Umwege gemacht. Ursprünglich war ich Zahnarzthelferin, aber das machte mich irgendwann sehr unzufrieden. Das war damals noch ein sehr unselbstständiger Beruf, bei dem man meistens wirklich nur angereicht hat, kaum etwas selbst machen durfte. Das gefiel mir nicht. Gefallen hat mir aber immer schon das Medizinische und der Umgang mit Menschen.
Wie kam es dann zum Berufswechsel?
Ich habe mich umgesehen nach etwas, was ich stattdessen machen könnte. Irgendwann legte mir meine Mutter einen Artikel aus der „Freundin“ hin, in dem der Berufsalltag einer Hebamme beschrieben wurde. Beim Lesen merkte ich einfach, dass das mein Beruf sein muss. Also habe ich eine neue Ausbildung gemacht. Inzwischen gibt es sogar an einigen Universitäten einen entsprechenden Studiengang. [Infos dazu unter www.hebammenverband.de – Anm. de. Redaktion]
Der Beruf hat nun wirklich eine lange Geschichte und ist sehr traditionsreich, entwickelt sich gleichzeitig aber ständig weiter. Inzwischen beinhaltet ihr Berufsbild sehr viel mehr als nur Geburtshilfe, oder?
Sehr richtig. Hebammen begleiten Mütter schon die ganze Schwangerschaft hindurch, wenn das gewünscht wird. Überhaupt ist Betreuung und Begleitung ein sehr großes Thema. Frauen können sich entscheiden, ob sie die Vorsorgeuntersuchungen bei ihrem Arzt oder lieber bei ihrer Hebamme durchführen lassen wollen. Zum Ultraschall geht man allerdings immer zum Arzt oder zur Ärztin.
Welche Gründe bewegen Frauen, sich lieber für die Hebammenvorsorge zu entscheiden?
Es ist etwas ganz Normales und Natürliches, schwanger zu sein und ein Kind zur Welt zu bringen. Das Thema ist nur irgendwann in die Arztpraxen und Kliniken verlegt worden. Das hatte natürlich auch oft gute Gründe, aber so begreifen viele Menschen Kinderkriegen heute als eine medizinische Angelegenheit. Viele Frauen entscheiden sich aber ganz bewusst dafür, ihre Schwangerschaft und eventuell auch die Geburt möglichst normal und wenig medizinisch zu erleben. Ich als Hebamme mache die Untersuchungen bei den Frauen zu Hause in ihrer eigenen und damit vertrauten Umgebung. Das schafft natürlich eine ganz andere Atmosphäre.
Vermutlich auch mit mehr Ruhe und Zeit für Fragen und Gespräche.
Wahrscheinlich schon.
Was ist das Beste an Ihrem Beruf?
Das Wunder zu erleben, wenn Kinder zur Welt kommen. Und damit meine ich auch den Weg dorthin. Es ist toll zu sehen, wie Frauen, die zunächst unsicher und verloren waren, sich im Laufe der Schwangerschaft darauf einlassen und dann doch ganz ruhig und bewusst auf die Geburt vorbereiten, ihren Weg und ihre Einstellung finden.
Sie sprechen auf Ihrer Homepage von „traditioneller Hebammenkunst“. Was meint das?
Das heißt vieles. Zum Beispiel finde ich besonders und wichtig, dass man bei Schwangerschaftsbeschwerden nicht einfach ein Mittelchen gibt, sondern den Ursachen auf den Grund geht. Dazu schauen wir dann, ob alle Regelkreise im Körper so funktionieren, wie sie sollen.
Regelkreise sind sowas wie Verdauung, Herz-Kreislauf usw.?
Genau, bei Rückenprobleme muss man nicht unbedingt direkt tapen, denn vielleicht rühren sie von nicht ausreichendem Trinken her oder sogar von Verdauungsstörungen. Ebenso können Schlafstörungen Ursachen haben, die sich viel einfacher beheben lassen, als mit Mittelchen.
Hat der Beruf Ihre Erwartungen erfüllt?
Das ist schwer zu sagen. Ich bin noch immer sehr, sehr gerne Hebamme. Ich kann freiberuflich arbeiten, was mir viel bedeutet, und ich erlebe so viel Positives. Ich weiß nicht, wo ich das für mich sonst finden könnte. Wenn Sie mich allerdings fragen, ob ich mich jetzt noch einmal für den Beruf entscheiden würde, müsste ich wohl verneinen.
Warum?
Hebammen leben und arbeiten heute mit viel Unsicherheit. Die Versicherungslage ist weiterhin ungeklärt.
Nach dem Stand der Dinge in dieser Sache wollte ich mich noch ohnehin bei Ihnen erkundigen. Können Sie mir noch einmal erklären, wo das Problem liegt, bitte? Zunächst waren ja schlicht die Versicherungsbeiträge praktisch ins Unerschwingliche gestiegen, aber nun will niemand will mehr Hebammen versichern. Richtig?
Genau, wir haben alle von unseren Berufshaftpflichtversicherungen zum 1.1.2016 die Kündigung bekommen, und ohne Versicherung dürfen wir natürlich nicht praktizieren. Das Risiko ist einfach zu hoch und nicht wirklich zu ermitteln. Hebammen sind bis zu 30 Jahre lang haftbar für Auswirkungen von Fehlern oder Unfällen.
Ist das denn was Neues? Das war doch sicher immer schon so?
Ja, aber einiges hat sich doch verändert: Zum einen ist die Bereitschaft zu klagen, gewachsen. Zum anderen haben Kinder größere Überlebenschance als früher, womit die Auswirkungen länger auftreten und sich auswirken können.
Was tut die Politik, um zu helfen?
Es gibt bereits eine Abschlagzahlung für Hausgeburten, damit zumindest die derzeit stark angestiegenen Beiträge dafür bezahlt werden können. Ansonsten hoffen wir noch auf eine Lösung.
Wir haben eben davon gesprochen, dass Schwangerschaft im allgemeinen Verständnis an Natürlichkeit und Unbefangenheit verloren hat. Woran könnte das liegen?
Es herrscht eine allgemeine Unsicherheit und Verunsicherung. Das liegt zum Teil sicherlich am Verlust der Großfamilien, in denen man früher mit dem Thema anders umging und viel selbstverständlicher in Kontakt kam. Beim Thema Sterben ist das ebenso ausgelagert worden. Dazu kommen Fachbücher, hinter denen manchmal ganz andere Interessen stehen, und Werbung, die uns glauben macht, am besten nehme man gleich ein Mittelchen und bleibe so möglichst fit und leistungsbereit. Bei Kopfschmerz wird dann eher direkt zu Tabletten gegriffen, als dass man sich vielleicht einfach mal hinlegt.
Wenn mich jemand nach dem ultimativen Ratschlag fragen würde, wie man sich auf die Geburt und das Elternsein vorbereiten kann, müsste ich passen. Meistens antworte ich, dass man sich zwar informieren, aber keineswegs vorbereiten kann. Wie beantworten Sie diese Fragen in den Geburtsvorbereitungskursen?
Diese Kurse sind tatsächlich eine knifflige Sache. Man muss die Balance finden aus ausreichender Information und dem Angst nehmen. Das ist etwas, wo man sehr individuell vorgehen muss.
Auch nach der Schwangerschaft betreuen sie die Familien weiter. Was passiert dann?
Mit der 36. Schwangerschaftswoche ist die Schwangerschaft nach unserem Verständnis beendet, die letzten Wochen vor der Geburt bezeichnen wir als Geburtsvorbereitung. Danach haben die Frauen, die möchten, bis zum ersten Geburtstag Anspruch auf Hebammenbetreuung. Dazu gehört dann die klassische Wochenbettbetreuung, aber auch Ernährungs- und Stillberatung.
Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Hebamme zwar eine wichtige Ratgeberin ist, vor allem aber eine Art Entscheidungsverstärker, die die Mütter dazu bringt, selbst eine Entscheidung zu treffen und diese dann durch Zureden unterstützt. Ist da was dran?
Ja, sicherlich. Ich will niemandem etwas einreden oder gar vorschreiben. Hebammen helfen mit Wissen und Unterstützung. In einigen Fällen merke ich, dass eine Frau zwar eine Entscheidung getroffen hat, aber nicht recht weiß, wie sie die gegenüber ihrer Umwelt verteidigen oder darstellen soll. Wenn sie dann sagen kann „Meine Hebamme hat das auch gesagt.“ ist ihr das eine große Hilfe.
Natürlich habe ich mich vor unserem Gespräch ein bisschen auf Ihrer Homepage umgesehen. Da werden noch einige andere Angebote vorgestellt, eine Trageberatung, zum Beispiel. Was verbirgt sich dahinter?
Das macht meine Kollegin Katharina Nickel, die selbst ihre Kinder gerne und viel getragen hat. Sie kennt sich mit Tragehilfen aller Art sehr gut aus, hat eine entsprechende Fortbildung absolviert und berät Eltern. Wichtig dabei zu erwähnen ist, dass sie nichts verkauft. Zu ihren Veranstaltungen kommt man entweder, um verschiedene Modelle auszuprobieren oder auch, wenn man schon ein Tuch oder ähnliches gekauft hat und noch nicht gut damit klar kommt. Schließlich sollen Rückenschäden bei Eltern und Kind vermieden werden. Manchmal hilft schon ein kleiner Kniff zum Glück. Es gibt Untersuchungen, die nahelegen, dass Babys, die etwa drei Stunden am Tag getragen werden, abends viel ruhiger und ausgeglichener sind.
Sofort aufgefallen ist mir der Punkt „Sternenkinder“. Dabei bekomme ich direkt eine Gänsehaut, denn es geht um totgeborene und kurz nach der Geburt verstorbene Kinder. Das gehört auch zu Ihrem Beruf.
Das gehört auch zum Leben. Man spricht dabei auch von einer „stillen Geburt“ oder „kleinen Geburt“. Zu diesem Punkt auf der Homepage bekomme ich oft auch kritische Rückmeldungen. Das möchte man natürlich lieber ausblenden. Ich begleite Familien aber auch hierbei.
Es gibt das Angebot, Fotos von diesen Kindern machen zu lassen. Das stelle ich mir sehr schwer vor.
Das ist es, aber gleichzeitig bieten solche Bilder für die Eltern eine sehr wertvolle Erinnerung, die ihnen hilft, das Erlebte zu verarbeiten, indem sie das Kind als Teil ihres Lebens sichtbar machen. Es gibt auch eine Organisation, die aus gespendeten Brautkleidern Kleidchen für diese Babys näht, denn oft sind sie ja so klein, dass man gar keine anderen bekommt.
Wenn Sie Eltern ein Motto mit auf den Weg geben sollten, dass sie sich sozusagen hinter die Ohren schreiben sollen. Wie lautete das?
Da würde ich mich für „Lass mir Zeit!“ entscheiden, einen Ausspruch von Emmy Pickler. Diese Kinderärztin hat schon früh Kurse für Eltern und Kinder entwickelt.
Sie bieten seit einiger Zeit sogenannte Fenkid®-Kurse an, und das als einzige weit und breit. Wie ich das verstanden habe, gehen die genau in diese Richtung. Erzählen Sie bitte, was dort geschieht!
Das Konzept wurde 1998 in München von der „Beratungsstelle für natürliche Geburt und Elternsein“ entwickelt. Dabei hat man Erkenntnisse nicht nur von Emmy Pickler einbezogen, sondern auch von Maria Montessorri, Jesper Juul und Elfriede Hengstenberg.
Wir unterhalten uns gerade in dem Raum, in dem auch die Treffen stattfinden. In der Mitte sehe ich eine Art Spielinsel mit bunten, weichen Matten und allerlei Spielzeug. Wie laufen die Treffen ab?
Die Eltern kommen mit ihrem Kind in den Kursraum und nehmen rund um die Insel auf dem Boden Platz. Dabei behalten sie ihre Kinder zunächst auf dem Arm. Erst wenn das Kind von sich aus Neugier signalisiert, legen oder setzen sie es auf den Boden.
Wie signalisieren denn Babys Neugier?
Sie zappeln vielleicht oder strecken sich nach etwas, was sie entdeckt haben. Das merkt man sehr deutlich. Nur ist es ansonsten fast immer so, dass man den Kindern bereits ein Angebot macht, sie animiert, etwas anzuschauen oder in die Hand zu nehmen.
Bei Ihren Kursen dürfen die Kleinen also ganz und gar selbst entdecken, und die Eltern haben frei und gehen nebenan Kaffeetrinken?
Nicht wirklich. Sie bleiben im Raum, ziehen sich aber zurück und setzen sich etwas abseits an die Wand. Dadurch geben sie ihrem Kind Sicherheit, einen Schutzraum, in dem es sich frei bewegen kann, weil es weiß, dass seine Bezugsperson noch dabei ist.
Und die Eltern schauen zu?
Genau, und das ist eine sehr spannende und oft neue Erfahrung. In dieser Phase wird auch nicht geredet, so dass die Kinder Geräusche ganz anders wahrnehmen können. Ein Spielzeug gibt ganz unterschiedliche Laute ab, je nachdem, ob man es auf den Boden oder eine weiche Matte schlägt. Man kann verschiedene Stufen von Knistern unterscheiden und auch die Stimmen der anderen Babys wahrnehmen.
Das kenne ich aus Babykursen tatsächlich ganz anders, aber ich fand es immer so schön und wichtig, mich austauschen und mal quatschen zu können. Ist es nicht total schwer, da zu sitzen und die Klappe zu halten?
Daran gewöhnt man sich, und es ist ungemein spannend, den Kindern zuzusehen. Man lernt, ihnen Zeit und Raum zu geben, selbst und selbstständig zu entdecken. Außerdem schließt sich nach etwa 20 min auch noch eine Auswertungs- und Gesprächsrunde an, denn tatsächlich haben die Eltern immer auch noch Fragen oder einfach Lust, sich auszutauschen.
Verändern diese Kurse die Sicht auf das eigene Kind?
Das funktioniert zum Teil ganz erstaunlich. Man steuert oft auf große Entwicklungsschritte hin: Umdrehen, Krabbeln, Sitzen, Laufen und so weiter. Dabei übersieht man, wie viele kleine Stufen es dazwischen gibt. Dafür muss erst wieder ein Bewusstsein geschaffen werden, damit man auch die scheinbaren Kleinigkeiten wertschätzt.
Bei Fenkid® wird also gefördert, indem man die Kinder einfach in Ruhe lässt?
So könnte man es überspitzen. „Machen lassen“ trifft es noch ein bisschen mehr. Man zeigt ihnen nichts, macht nichts vor und gibt ihnen nichts in die Hand.
Das klingt denkbar einfach. Muss man Eltern tatsächlich heutzutage anleiten, die Kinder einfach mal machen zu lassen?
Die Nachfrage nach Kinderkursen ist allgemein sehr hoch. Eben weil es zum einen viel Unsicherheit gibt, aber auch weil man die Elternzeit nutzen und genießen möchte. Bevor man wieder arbeiten geht, möchte man in Ruhe Zeit miteinander verbringen und auch einiges miteinander erleben. Dabei gerät man in Versuchung, diese großen Entwicklungsschritte forcieren zu wollen.
Auf der Spielinsel sieht es ein bisschen aus wie in meinem Küchenschrank. Also, auch so unordentlich … aber auch was das Material angeht, das ich dort sehe.
Bei Fenkid® wird sehr auf heuristisches, also reduziertes Material gesetzt. Spielzeuge, die eine Funktion vorgeben, benutzen wir gar nicht. Vielmehr finden sich hier Alltagsgegenstände oder Dinge, die diesen nachempfunden sind. Auf dem Wickeltisch finden Babys beispielsweise die Feuchttücherboxen total spannend. Die gibt es hier auch, aber mit weichen Stofftüchern gefüllt. Ein anderes Beispiel ist der Schneebesen, in dessen Mitte sich ein kleiner Ball befindet. Damit kann man prima Krach machen oder auch ganz leise rascheln.
Jetzt habe ich noch gar nicht gefragt, woher der Name Fenkid® eigentlich steht.
Frühe Entwicklung von Kindern begleiten.
Mit diesen Kursen sind sie in OWL einmalig?
Lange Zeit gab es sie überhaupt nur in Bayern. Inzwischen verbreitet sich das Angebot, aber in NRW -gibt es außer bei mir NRW-weit nur noch in Eschweiler Fenkid®-Kurse.
Meine Kinder sind leider schon ein bisschen zu groß, aber vielleicht komme ich ja mal mit einem Leihkind zum Schnuppern. Spannend klingt das auf alle Fälle, und ich hoffe, dass viele Ihr Angebot wahrnehmen. Herzlichen Dank für das interessante Gespräch.
Mehr dazu unter www.hebamme-anjalausen.de