Interviewporträt Christine Eichholz, tpw theaterpädagogische werkstatt gGmbH

Es ist wahrlich kein Wohlfühlthema, um das es sich in unserem Interview mit Christine Eichholz von der theaterpädagogischen werkstatt dreht. Sie ist die regionale Teamleitung des Ensembles in Ostwestfalen-Lippe, das unter anderen mit dem Projekt „Mein Körper gehört mir!“ in Schulen gastiert, um dort aktive Präventionsarbeit gegen sexuellen Missbrauch an Kindern zu leisten. Wir wollten wissen, wie diese Arbeit funktioniert und warum sie leider wichtig bleibt.

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Es ist immer sehr spannend zu erfahren, wie die Menschen dorthin geraten sind, wo sie arbeiten. Verraten Sie uns ein bisschen über Ihren Werdegang?

Christine Eichholz

Studiert habe ich Anglistik, Literaturwissenschaft und Philosophie, aber schon studienbegleitend absolvierte ich eine Ausbildung im Bereich Theaterpädagogik. Das war damals, vor inzwischen bald 20 Jahren, noch ein sehr junges Feld. Inzwischen gehört die Theaterpädagogik zum Glück in vielen Bereichen ganz selbstverständlich zur Theater- und zur pädagogischen Arbeit dazu.

Auch die theaterpädagogische werkstatt (tpw) war damals noch ein neues Projekt, in dem ich selbst als Schauspielerin gestartet bin Nun können wir im nächsten Jahr den 30. Geburtstag feiern. Wie man sieht, bin ich dem Projekt treu geblieben. Zugleich arbeite ich aber auch für die Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen in vielen Fortbildungen, Vorträgen und anderen Bildungsangeboten in der Präventionsarbeit.

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Die theaterpädagogische werkstatt ist inzwischen zwar mit Schwerpunkten, aber dann doch im ganzen deutschsprachigen Raum unterwegs. Das sind sehr viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Welche Hintergründe haben die, sind es eher Schauspieler und Schauspielerinnen oder Sozialpädagogen, Sozialpädagoginnen und ähnliches? Man braucht ja eigentlich beides, oder?

Christine Eichholz

Das ist ganz unterschiedlich, beide Richtungen bringen die Kolleginnen und Kollegen mit, andere kommen sozusagen komplett fachfremd zu uns und werden von uns eingearbeitet. Das Projekt zeigt den Schülern und Schülerinnen Spielszenen, anhand derer Themen erarbeitet werden. Deshalb spielen beide Bereiche – Pädagogik und Theater – eine Rolle.

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Es kann durchaus vorkommen, dass ein Kind durch das Projekt erkennt, dass ihm Missbrauch widerfahren ist und/oder sich öffnet. Dann müssen die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen vor Ort damit umgehen können, müssen wissen, was zu tun ist.

Christine Eichholz

Ganz genau. Deshalb durchlaufen alle, die zu uns kommen, eine Grundlagenschulung zu sexualisierter Gewalt und bleiben mit laufenden Fortbildungen auch immer auf einem aktuellen Stand. Dazu nutzen wir interne und externe Angebote und eine große jährliche Fachtagung, zu der wir Fachleute mit unterschiedlichen Schwerpunkten einladen. Es ist eine großartige Möglichkeit alle zu treffen und uns auszutauschen.

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Vermutlich kommt man nicht umhin, die Spielszenen an neue Entwicklungen anzupassen. Internet und Mobiltelefone waren vor zwanzig Jahren vermutlich weniger präsent.

Christine Eichholz

Ja, die Inhalte haben sich immer wieder geändert, angepasst an die Lebenswirklichkeit der Kinder. Und auch sprachlich schärfen wir immer wieder nach und beziehen aktuelle fachliche Entwicklungen mit ein.

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Sprechen wir bitte noch kurz über das Unternehmen selbst. Die theaterpädagogische werkstatt ist keine öffentliche Einrichtung? Wie ist die Geschichte dazu?

Christine Eichholz

Sie ist eine gGmbH, also eine gemeinnützige Einrichtung, die nicht gewinnorientiert arbeitet. Gegründet wurde sie ursprünglich von Anna Pallas und Reinhard Gesse, der mittlerweile im Ruhestand ist. Inzwischen ist Leona Pallas die zweite Geschäftsführerin. Zugrunde lag und liegt in der tpw die Idee, dass es ganz essentiell wichtig ist, mit Kindern über Missbrauch zu sprechen. Damals noch eine beinahe revolutionäre Idee, ist das heute allgemein anerkannt: informierte Kinder sind besser geschützt. Immer schon arbeiten wir mit Fachleuten aus anderen Bereichen zusammen, also zum Beispiel Polizei, Fachberatungsstellen und anderen, die unsere Programme und unsere Arbeit sehr unterstützen. 

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Wie finanziert sich die Arbeit? Gibt es eine öffentliche Förderung? Kunden sind die Schulen selbst?

Christine Eichholz

Die Schulen buchen das Projekt und natürlich bemühen wir uns, dass die Preise halbwegs stabil und machbar bleiben. Dazu gibt es zahlreiche Förderungen. In manchen Orten haben Institutionen, Banken oder Firmen auch Patenschaften übernommen, mit denen die Projekte komplett oder teilfinanziert werden.

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Ich kenne „Mein Körper gehört mir!“ als Mutter. Ich versuche es vorzustellen, aber Sie müssen bitte ergänzen!

Es beginnt mit einem Elternabend, bei dem auch die Erwachsenen das Projekt kennen lernen. Dann folgen drei Besuche in der Schule, bei denen den Kindern Spielszenen gezeigt werden, die Situationen zeigen, die Grenzüberschreitungen oder Missbrauch thematisieren. Die geben Gesprächsstoff für die Interaktion mit den Kindern und zeigen Lösungen auf, wie sie reagieren können. Trifft es das in etwa?

Christine Eichholz

Die Elternabende sind keine Pflichtveranstaltung, aber wir empfehlen sie dringend. Natürlich nehmen die Kinder das Thema auch mit nach Hause und dann ist es gut, wenn die Eltern wissen, wovon sie reden und wie sie das Thema aufgreifen können.

Bei jedem Besuch spielen die Schauspieler/innen je drei kleine Szenen, die aufeinander aufbauen. Zum Besuch gehört auch immer der „Körpersong“, ein Lied mit Ohrwurmgarantie, zu dem jeweils eine neue Strophe hinzukommt und der sehr eingängig ist.

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Wie findet man beim ersten Besuch den richtigen Einstieg, um die Kinder nicht total zu überfallen?

Christine Eichholz

Der erste Teil beginnt sehr niedrigschwellig und sensibilisiert zunächst für schöne und unangenehme Gefühle, wir nennen sie Ja- und Nein-Gefühle. Hier ist die Botschaft: Diese Gefühle gibt es und die darf man haben, auch und vielleicht gerade als Kind. Täter/innen manipulieren die Gefühle von Kindern und umso notwendiger ist es, dass Kinder ihre Empfindungen wahrnehmen und verteidigen können! Wie kann man Nein sagen, auch wenn es schwer ist? Kinder sind es nicht unbedingt gewohnt, gerade gegenüber den Großen Nein zu sagen. Wir vermitteln den Kindern, dass es wichtig ist, auf die eigenen Gefühle zu hören. Gefühle haben immer Recht und es ist ganz wichtig, dass Kindern das klar ist. Wir bestärken sie darin, sich anderen mitzuteilen und Hilfe zu holen, wenn sie welche benötigen.

Bei der zweiten Einheit stehen „fremde Täter/innen“ im Mittelpunkt, die, verglichen mit Täter/innen aus dem Nahbereich, den deutlich geringeren Anteil ausmachen. In einer Spielszene wird ein Kind mit einem Exhibitionisten konfrontiert, holt aber den Hausmeister der Schule zu Hilfe. Eine andere Szene thematisiert einen Chat, in dem ein Kind scheinbar mit einem Gleichaltrigen chattet, der sich dann aber als Erwachsener herausstellt. Dabei nimmt die Schuldfrage eine zentrale Rolle ein, denn viele Kinder argumentieren, dass das Kind ja irgendwie selbst zumindest eine Mitschuld trüge, wenn es sich auf so einen Chat einlässt und sich mit der unbekannten Person verabredet. Aus solchen Überlegungen heraus, erzählen Kinder oft nicht, was ihnen passiert ist. Da vermitteln wir ihnen, dass immer die Täter/innen die Schuldigen sind, niemals das Kind. Von dieser Schuld entbindet sie eine eventuelle Unvorsichtigkeit der Kinder nicht. Als Handhabe bekommen die Kinder in dieser Einheit drei Fragen zum Selbstschutz mit: Habe ich ein Ja- oder ein Nein-Gefühl? Weiß jemand, wo ich bin? Bekomme ich Hilfe, wenn ich welche brauche? Wenn sie auch nur eine dieser Fragen mit Nein beantworten, sollen sie auch Nein sagen und einer erwachsenen Person erzählen, was Ihnen passiert ist.

Beim letzten Besuch geht es um das wahrscheinlich schwierigste, aber auch leider häufigste Thema: „Täter/innen aus dem Nahbereich“. Gezeigt werden ein Betreuer im Jugendzentrum und eine Mutter als Täterin. Solche Täter/innen versuchen, die Kinder zu Geheimhaltung zu verpflichten. Dagegen setzen wir die Erkenntnis, dass es gute und schlechte Geheimnisse gibt. Die guten Geheimnisse sind vielleicht Geburtstagsüberraschungen, die man nicht verrät, um sie noch schöner zu machen. Die schlechten Geheimnisse aber darf man unbedingt auch weitererzählen. Dabei geben wir den Kindern noch mit, dass sie nicht aufgeben dürfen, weil sie vielleicht mehr als eine Person um Hilfe bitten müssen, bevor sie tatsächlich Hilfe bekommen.

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Ich habe im Kopf, dass sich ein Kind an durchschnittlich vier Personen wenden muss, bevor ihm geholfen wird.

Christine Eichholz

Hierzu gibt es keine konkreten Zahlen, aber: Nicht alle Erwachsenen können Kindern die Hilfe geben, die sie brauchen. Manche wollen es nicht wahr haben, manche fühlen sich hilflos und handeln aus Unsicherheit nicht. Auf der anderen Seite stehen die Kinder unter Geheimhaltungsdruck und machen eher durch Andeutungen und Verhalten auf sich aufmerksam, sodass für die Erwachsenen manchmal nicht ganz klar wird, ob wirklich ein sexueller Missbrauch vorliegt oder eine andere Belastungsursache.

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Erreicht das Konzept die Kinder? Normalerweise lernen sie das Stück in der dritten oder vierten Klasse kennen. Ist das das richtige Alter? Ich frage mich, ob sie das Thema da überhaupt schon verstehen und so verinnerlichen, dass es ihnen auch noch beispielsweise in der Pubertät präsent ist.

Christine Eichholz

Grundschulkinder stellen im Bereich des sexuellen Missbrauchs eine besondere Risikogruppe dar, denn in diesem Alter beginnen sie, mehr ohne ihre Eltern unterwegs zu sein. Damit können sie auch vermehrt auf Täter/innen treffen. Gerade das Thema des Nein-Gefühls verstehen sie durchaus sehr gut. Man kennt das Beispiel, dass Kinder ein Küsschen geben sollen, aber gar nicht wollen.

Die beste Variante ist, dass Sexualkunde und Aufklärung bereits Unterrichtsthema waren, bevor wir zu den Kindern kommen, damit zunächst ein Kontakt mit einem positiven Bild von Sexualität stattfindet. Das lässt sich in der Praxis nicht immer umsetzen, dann ist es hilfreich, wenn die Kinder zumindest die Genitalien benennen können und die korrekten Bezeichnungen kennen.

Hasenfenster

Aber die tpw besucht auch Kita-Gruppen und Jugendliche…

Christine Eichholz

Das stimmt, allerdings mit anderen Programmen. In den Kitas beispielsweise kommt „Die große Nein-Tonne“ zum Einsatz. In die darf man alles reinpacken, wozu man ein „echtes Nein“ sagen kann. Es gibt nämlich Neins, weil man einfach keine Lust hat, zum Beispiel aufs Aufräumen oder Zähne putzen. Hinter diesen Neins stehen aber sinnvolle Regeln, die die Kinder einhalten sollten. Aber Erwachsene, die für Kinder bestimmen, dass die Suppe nicht mehr zu heiß ist, überschreiten ihre Grenzen. Den Unterschied verstehen auch Kita-Kinder schon sehr gut.

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Seit fast dreißig Jahren, ist die tpw mit ihren Theaterprogrammen unterwegs. Sehen Sie eine Chance, dass das Thema sich mal irgendwann erledigt? Ihr Ansatz ist es, den Täter/innen die Gelegenheiten zu entziehen, aber muss man nicht generell auch bei den Täter/innen ansetzen?

Christine Eichholz

Ich fürchte, sexuellen Kindermissbrauch gibt es schon seit Jahrhunderten und er wird auch ein Thema bleiben. Damit bleibt auch die Arbeit der tpw wichtig. Die Arbeit mit Täter/innen erfolgt in entsprechenden Beratungsstellen und Therapieangeboten. Es gibt durchaus Menschen, die eine sexuelle Präferenz für Kinder an sich feststellen und als Problem erkennen. Dazu führt etwa die Charité Therapieprogramme durch. Aber es ist nur ein sehr geringer Teil der Täter/innen, die tatsächlich eine solche Präferenzbesonderheit im Sinne einer Pädophilie haben. Bei den meisten Missbrauchstaten ist Macht und ein Gefühl der Überlegenheit die Motivation.

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Und solche Machtphantasien lassen sich am ehesten mit Kindern ausleben? Ich kann mich so gar nicht da reindenken. Steht jemand am Spielplatz und geht dann spontan auf ein Kind zu?

Christine Eichholz

Sexueller Missbrauch passiert nicht im Affekt oder spontan, sondern in der Regel geplant und mit Vorbereitung. David Finkelhor spricht von einem Vier-Stufen-Modell, das zur Tat hinführt: Zunächst braucht es die Motivation, eine solche Tat zu begehen, beispielsweise der Wunsch, Macht auszuüben. Den Täter/innen ist durchaus bewusst, dass sie eine rechtliche und moralische Grenze überschreiten. Deshalb müssen sie auf einer zweiten Stufe ihr Vorhaben vor sich selbst rechtfertigen. Dabei gibt es erstaunliche Mechanismen auch zur Selbstmanipulation. Erst als drittes folgt der Schritt ins Außen, bei der eine Gelegenheit geschaffen wird. Dazu manipulieren Täter/innen das Umfeld von Kindern, erschleichen sich Vertrauen von Kindern und Bezugspersonen und testen schrittweise Grenzen aus. Nicht selten werden die Täter/innen im Nachhinein als besonders freundlich, großzügig und zugewandt beschrieben. Zuletzt versuchen sie noch die Geheimhaltung abzusichern. Das alles braucht immer Planung und Vorsatz.

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Wir hatten schon besprochen, dass betroffene Kinder nicht leicht an Hilfe kommen. Zum einen verstehen die Erwachsenen ihre Hilfesuche manchmal nicht, zum anderen scheuen sie sich wahrscheinlich auch, sich dieses Themas anzunehmen. Das ist auch nicht immer leicht. Ich kenne Fälle etwa von Erzieherinnen, die zwar gehandelt haben, aber durchaus mit der Sorge, was es für ihre berufliche Zukunft bedeuten könnte, wenn sich ein Verdacht nicht bestätigt oder nicht beweisen lässt.

Christine Eichholz

Man muss wissen, dass keine Anzeigepflicht besteht. Das heißt, man muss nicht direkt zur Polizei gehen. Der erste Schritt sollte eher zu einer Fachberatungsstelle führen, die auf sexualisierte Gewalt an Kindern spezialisiert ist. Dort kann man auch eine vage Vermutung äußern und wird beraten, wie man weiter vorgehen kann, um mehr herauszufinden. In keinem Fall muss man selbst damit alleine bleiben und deshalb muss man die Kinder auch nicht alleine lassen. Auch wenn man sich als Vertrauensperson des Kindes überfordert fühlt, kann man und darf man das Ganze dort thematisieren, aber man muss sich erstmal kümmern!

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Um Kinder präventiv zu schützen, müsste man das Thema wahrscheinlich leider immer wieder aufgreifen und dranbleiben. Wie können Eltern mithelfen?

Christine Eichholz

Prävention bei den Erwachsenen und in der eigenen pädagogischen Haltung. Das beginnt schon ganz früh auf dem Wickeltisch. Eltern benennen schon bei Babys spielerisch die Körperteile. Dabei werden bei manchen Eltern aber z.B. die Genitalien ausgespart. Täter/innen setzen oft auf verschleiernde Begriffe und bringen Kindern, die die richtigen Begrifflichkeiten nicht kennen, dann ein falsches Vokabular bei. In meinen Fortbildungen erzähle ich oft von dem Beispiel, in dem ein Kind davon erzählte, dass der Opa immer „den Trecker in seine Garage fahre“. Es hat viel zu lange gedauert, bis jemand verstanden hat, was es da eigentlich berichtet. Eine Enttabuisierung wäre wünschenswert, muss aber natürlich immer altersgerecht stattfinden. Sprache sollte hier eindeutig, aber natürlich respektvoll eingesetzt werden.

Außerdem können Eltern den Kindern beibringen, die eignen Gefühle zu erkennen und zuzulassen. Auch Kinder dürfen Grenzen haben und ausdrücken! Dazu gehört auch, mit einem Nein mal bei den Erwachsenen durchzukommen. Fatal kann es werden, wenn Kinder verinnerlichen, dass ihr Nein nicht gehört wird, die Großen immer am Ende ihr Recht und ihren Willen durchsetzen.

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Kinder ernst nehmen, respektieren und stark machen – ohnehin eine guter Ansatz! Ich danke Ihnen für dieses spannende Gespräch zum schwierigen Thema und für die wichtige Arbeit!

Zur theaterpädagogischen werkstatt geht es hier.

Der ZONTA Club Paderborn unterstützt die Schulprojekte der TPW im Kreis Paderborn. Dort kann man zu diesem Zweck spenden.

Hilfetelefon sexueller Missbrauch: 0800 2255530